Leeroy will’s nicht wissen

Der eine oder andere ist bei Youtube sicherlich schon mal auf das Format Leeroy will’s wissen gestoßen. In diesem interviewt der 1996 in Bonn geborene Leeroy Matata, der mit bürgerlichem Namen Marcel Gerber heißt, Menschen, denen Außergewöhnliches passiert ist. Das Spektrum reicht von Unfallopfern über Magersüchtige bis hin zu Ex-Nazis, die den Ausstieg geschafft haben.

Das klingt erst einmal interessant und so dachte ich mir, ich bewerbe mich einmal mit meiner Unfallgeschichte. Immerhin wäre es eine gute Gelegenheit gewesen, ein Statement gegen rücksichtslose Raser zu setzen. In einer Zeit, in der die FDP als kleinster Koalitionspartner der Ampelregierung erfolgreich jedes Tempolimit blockiert und damit Wähler weit über die 1% Prozent ihres superreichen Klientels mobilisiert, sicherlich keine schlechte Idee. Einfach mal die hässlichen Konsequenzen aufzeigen und darauf hoffen, dass es wenigstens einige Menschen wachrüttelt.

Nach dem Einreichen meiner Bewerbung verging über ein Jahr ohne jede Reaktion. Nicht einmal eine Standardablehnung im Copy-and-Paste-Verfahren, wie ich sie bereits von Bares für Rares kannte, war mir vergönnt. Klar beantwortet Leeroy Matata die eingehenden E-Mails nicht persönlich, darum kümmert sich ein ganzes Team. Eine absolute Respektlosigkeit ist das Ausbleiben jeder Reaktion dennoch, obgleich ich es inzwischen fast schon begrüße, keine Einladung zu einem Interview erhalten zu haben. Der Kanal hat sich nämlich nicht gerade zum Besten entwickelt.

Der Fokus hat sich immer mehr auf reißerische Themen verlagert. Wie fühlt man sich als verurteilter Mörder oder als Pornostar? Wie ist es, mit 13 schwanger zu sein und vom verantwortungslosen Vater den Laufpass zu bekommen? Leeroy will alles wissen, was Klicks bringt, und wenn er sich dafür auf BILD-Niveau begeben muss.

Beim zweiten Format Das Treffen sieht es fast noch schlimmer aus. Dort lässt Leeroy gegensätzliche Meinungen aufeinandertreffen, was ein interessanter Beitrag zur Debattenkultur hätte werden können. Doch Mischungen wie Pädophiler trifft Missbrauchte oder Mörder trifft Angehörigen überschreiten regelmäßig Grenzen, da die Täterseite nahezu unmoderiert ihr kriminelles Verhalten rechtfertigen und um Verständnis werben darf.

Leeroy schafft einen Safe-Space für jedermann, auch für Pädokriminelle, Mörder, Salafisten und Faschisten. Kritische Fragen: Fehlanzeige! Im Gegenteil darf bei Leeroy schon mal ein AfD-Politiker einer Transfrau die Meinung geigen und unwidersprochen Falschinformationen verbreiten. Die Moderation überlässt es einfach der Gegenseite, diese zu wiederlegen. Ebenso wird es dem Publikum überlassen, darüber zu entscheiden, wo die Wahrheit liegt. So erspart man sich die Recherche. Allerdings ist es nicht nur faul, sondern brandgefährlich, Lügenpropaganda und Hetze nicht als solche zu entlarven.

Doch für Klickzahlen wird die Realität ganz bewusst verzerrt. Das betrifft auch die Auswahl der Interviewpartner, wie das Beispiel Polizist trifft Antifaschist zeigt. Die Antifa wird in dem Video durch einen klischeemäßig vermummten Krawallo vertreten, der sich selbst „Paprika“ nennt. Schon nach wenigen Minuten ist klar, dass es sich um eine Knallcharge handelt, die nie ernsthaft Antifa-Arbeit geleistet hat und überhaupt nicht weiß, warum es wichtig ist, Faschismus zu bekämpfen. Im Gegenteil bekennt der Depp, früher selbst rechtsextrem gewesen zu sein und sich eigentlich nur gern mit der Polizei zu prügeln. Er könnte genauso gut ein Agent Provokateur sein, denn mit jedem Wort, das seinen Mund verlässt, schadet er dem Anliegen des Antifaschismus.

Der Name Paprika ist leider schon vergeben.

Auf der anderen Seite sitzt ein Polizist, der gar nicht erst in die Verlegenheit gebracht wird, selbstkritisch über Polizeigewalt reflektieren zu müssen. Stattdessen wird er mit der abschreckenden Gewaltbereitschaft eines offenkundigen Extremisten konfrontiert, der ein gefundenes Fressen für jeden CDU- und AfD-Politiker darstellt. Dabei wird ein völlig falsches Bild einer Antifa gezeichnet, die es ohnehin nicht in der von den Massenmedien dargestellten homogenen Form gibt.

Die Polizei auf der anderen Seite bekommt bei Leeroy stets eine Plattform für ihre unkritische Selbstdarstellung. Obwohl Marcel Gerber sich als Afrodeutscher im Rollstuhl eigentlich mit Racial Profiling und Diskriminierung auskennen müsste, scheut er sich, diese Themen anzusprechen. Gleiches gilt für rechte Chatgruppen und Prügelattacken auf friedliche Sitzblockaden. Stattdessen lässt sich Matata für seine reißerischen Videothumbnails im gespielten Würgegriff eines Polizeibeamten fotografieren, was angesichts von Mordfällen wie dem an George Floyd in den USA einfach nur geschmacklos ist.

Nein, das ist nicht witzig!

Das alles ist kein objektiver Journalismus, auch wenn Matata sich gern neutral gibt. Objektiver Journalismus darf sehr wohl kritische Fragen stellen und Interviewpartner mit den eigenen Recherchen konfrontieren, sofern diese überhaupt vorhanden sind. Die knappen Faktenchecks zu Beginn der meisten Videos erfüllen diesen Zweck nicht wirklich und als Moderator greift Leeroy auch nicht ein, wenn Fakten verdreht oder negiert werden. Die Qualität des Kanals darf daher als mangelhaft bezeichnet werden und was die Themenwahl angeht, reiht sich ein Tiefpunkt an den nächsten.

Anfang 2023 hat schließlich das Online-Content-Netzwerk Funk, das zu ARD und ZDF gehört, die Reißleine gezogen und die Zusammenarbeit mit Leeroy Matata gekündigt. Offiziell heißt es dazu: „Wir geben unseren Formaten den größtmöglichen Spielraum von Produktionen, konnten aber manche Themen bei ‚Leeroy will’s wissen’ nicht unterstützen. Dies lag auch an jugendschutzrechtlichen Bedenken, da wir sicherstellen müssen, dass alle Inhalte für junge Menschen ab 14 Jahren geeignet sind.”

Quelle

Gerber beklagte sich auf der anderen Seite über mangelnde „kreative Freiheit“. Vielleicht hätte er dann lieber Künstler werden sollen. Jedenfalls habe ich nach all seinen Videos, die ich mir angesehen habe, überhaupt kein Interesse mehr, in seiner Sendung aufzutreten. Allerdings hätte ich ein paar kreative Ideen, was er mir damals in eine Ablehnung hätte schreiben können.

Wie wäre es z. B. mit: „Damit die Unfallgeschichte interessant wird, müsste sie schon einem erfolgreichen Bestsellerautor passiert sein.“ Oder: „Unfälle mit unter 5 Toten sind nicht spektakulär genug. Da braucht es schon bundesweite Schlagzeilen.“ Zu ehrlich? Okay, dann vielleicht: „Sorry, aber Unfälle mit Genickbrüchen hatte ich schon genug in meiner Sendung. Komm wieder, wenn der Kopf ab ist.“

Was den Punkt mit der Opferzahl angeht, finde ich es übrigens bezeichnend, dass nach dem grauenhaften Unfall mit 7 Toten am 1. April 2023 bei Bad Langensalza die Flagge am Gothaer Rathaus auf Halbmast gehängt wurde und der Oberbürgermeister den Angehörigen sein Beileid ausgesprochen hat, da eines der Opfer aus dem Kreis Gotha stammte. Als meine Mutter Ende 2018 bei einem ähnlichen Unfall mit insgesamt 4 Toten starb, gab es weder Trauerbeflaggung noch Beileidbekundungen. War wohl einfach nicht spektakulär genug.

Für mich zeichnet sich hier ein gesamtgesellschaftliches Problem ab: Wenn man es nicht in eine reißerische Schlagzeile geschafft hat, interessiert sich keine Sau dafür, was einem Schlimmes wiederfahren ist. Weder die Politik noch die Medien kümmert es, solange es nicht genügend Aufmerksamkeit erzeugt, um Kapital daraus zu schlagen. Dementsprechend will’s auch Leeroy nicht wirklich wissen, wenn es keine Klickzahlen generiert.

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