Auf zwei Planeten – Buch 1

Das Hauptwerk von Kurd Laßwitz (1848-1910) ist in vielerlei Hinsicht ein visionärer Meilenstein der frühen Science Fiction und steht auf einer Stufe mit den Werken seiner Zeitgenossen Jules Verne und H. G. Wells. Obgleich deren Romane zahlreicher und bekannter sind, sollte Kurd Laßwitz‘ Einfluss auf das Genre nicht unterschätzt werden, hat er doch viele bekannte Persönlichkeiten und insbesondere nachfolgende deutsche Science Fiction Autoren inspiriert.

Visionär ist er vor allem in technischer Hinsicht. Seine Marsianer bzw. Martier, die sich selbst „Nume“ nennen, gewinnen ihre Energie aus Sonnenlicht, womit Laßwitz schon Ende des 19. Jahrhunderts die Photovoltaik vorweg nimmt. Weiterhin besitzen die Nume Fernsprecher, Strahlenwaffen und Antigravitation. Die „abarischen Felder“ könnten dabei glatt die Vorlage für die Repulsorliftantriebe aus „Star Wars“ sein. Die ringförmigen Raumstationen sind aus der heutigen Science Fiction ebenfalls nicht mehr wegzudenken und seine Kugelraumschiffe finden sich u.a. in „Perry Rhodan“ wieder.

In einigen Punkten hat die reale technologische Entwicklung Laßwitz allerdings widerlegt. So macht es überhaupt keinen Sinn, an den Polen eines Planeten zu landen. Heutige Raumfähren können an jedem beliebigen Punkt in die Erdatmosphäre eintreten und die dabei entstehende Reibungshitze wäre auch über den Polen ein Problem. Die Lösung sind Hitzeschutzkacheln oder in Zukunft vielleicht Energieschilde, doch die Marsianer besitzen nichts dergleichen.

Die Beschleunigung durch den Raum durch Richtschüsse ist ebenfalls eine antiquierte Vorstellung. Raketentriebwerke und Schubdüsen sind in der heutigen Raumfahrt die gängigen Mittel, um zu beschleunigen und die Flugrichtung zu ändern. Wenn’s etwas schneller gehen soll, wären Ionentriebwerke das Mittel der Wahl. Eine Odyssee, wie sie die erste Erdmission der Marsianer durchmacht, wäre mit unserer aktuellen Technologie undenkbar, obwohl sie noch vergleichsweise primitiv ist. So dauert eine Reise zum Mond nur wenige Tage und keine Monate!

Leider gibt es noch einige weitere grobe Fehler bei den Schilderungen des Marsianers Jo über die erste Mission, 60 Jahre vor der Entdeckung der Marsianer am Nordpol durch die Menschen. So schildert Jo, dass die damalige Mission am Südpol landete und dort von Eisbären angegriffen wurde. Das ist unmöglich, da es am Südpol keine Eisbären gibt, was zu Laßwitz‘ Lebzeiten schon bekannt gewesen sein sollte.

Die Marsianer an sich mag man ihm dabei noch verzeihen, da man Ende des 19. Jahrhunderts noch voller Hoffnung war, intelligentes Leben auf unserem Nachbarplaneten vorzufinden. Ebenso vermutete man unter den Wolken der Venus einen üppigen Dschungel. Erst in den 1960ern wurden all diese Hoffnungen durch die Daten von Raumsonden zerstört.

Kurd Laßwitz war zudem nicht der Einzige, der mit den Marsbewohnern falsch lag. Auch seine Zeitgenossen H.G. Wells („Krieg der Welten“) und Edgar Rice Burroughs („John Carter vom Mars“) vermuteten Leben auf dem roten Planeten. Dabei erlagen sie alle einer Fehlübersetzung des Begriffes „Canali“, welcher 1877 vom italienischen Astronomen Giovanni Virginio Schiaparelli geprägt wurde. Richtig übersetzt bedeutet dieser „Gräben“ und nicht „Kanäle“.

Diesen Irrtum macht Laßwitz jedoch dadurch wett, dass er zumindest die geringere Schwerkraft des Mars berücksichtigt, durch welche die Marsianer auf der Erde erhebliche Probleme bekommen. Ihr Körperbau ist nicht für die höhere Erdgravitation geschaffen, wodurch sie schwach und träge werden. Tatsächlich hätten Menschen, die einst in Marskolonien geboren werden, mit denselben Problemen zu kämpfen, wenn sie auf den Heimatplaneten ihrer Vorfahren zurück kämen.

Ein weiteres wichtiges Thema, welches glaubwürdig dargestellt wird, ist die Sprachbarriere zwischen Menschen und Marsianern. Als die Protagonisten Torm, Saltner und Grunthe am Nordpol auf die Basis der Nume treffen, haben sie glücklicherweise ein Übersetzungsbuch ihres Freundes Ell dabei. Dieser stellt sich im späteren Verlauf als Sohn des Marsianers All heraus, der 60 Jahre zuvor auf der Erde gestrandet war und sich auf eine Menschenfrau eingelassen hat. So wuchs Ell zweisprachig auf, was in der Tat der beste Weg wäre, eine Verständigung zu erzielen.

Während Torm bei der Irrfahrt des deutschen Erkundungsballons an die Grenze des Weltraums verloren geht und erst gegen Ende des ersten Buches wieder Erwähnung findet, verbringen Saltner und Grunthe mehrere Monate bei den Nume. Neben der Sprachbarriere ergeben sich auch kulturelle Unterschiede. Angefangen bei den Essgewohnheiten, denn die Martier speisen für gewöhnlich allein und nehmen in Gesellschaft nur Genussmittel zu sich. Darunter eine Art Stromstoß, womit Laßwitz einen kuriosen Trend vorhersagt, der eine Zeit lang in Mexiko in Mode war. Allerdings eher bei weniger intelligenten Erdlingen.

Ein weiterer Unterschied besteht in der Führung von Liebesbeziehungen. Die Marsianer lehnen Beziehungen ab, die unfrei machen. So ist es auch nicht weiter schlimm, dass Saltner sowohl mit La als auch mit Se anbandelt. Das Konzept der freien Liebe kam erst rund 70 Jahre nach Erscheinen des Romans auf. In der christlich-konservativen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts fand Polyamorie bestenfalls im Geheimen statt und war absolut tabu.

Saltner repräsentiert in fast jeder Hinsicht Offenheit und Neugier, die Einladung auf den Mars nimmt er trotz einiger Bedenken gern an. Grunthe ist dagegen konservativ und pflichtbewusst. Die Vorstellung, ein halbes Jahr auf dem Mars zu verbringen, behagt ihm überhaupt nicht. Lieber möchte er sein Heimatland und den Kaiser über die Anwesenheit der Marsianer unterrichten.

Da gerade ein roter Kugelraumer mit dem offiziellen Repräsentanten der Marsregierung eintrifft, der zwei Luftschiffe mitbringt, wird Grunthes Forderung nach sofortiger Freilassung schließlich stattgegeben. Der Repräsentant des Mars ist derweil kein Geringerer als Ill, der Onkel des Hybriden Ell. Zunächst scheint dies den Erstkontakt zu vereinfachen. Außerdem können die Luftschiffe die Suche nach dem verschollenen Torm unterstützen, der sich inzwischen per Brieftaube gemeldet hat.

Torms Frau Isma ist darüber sehr froh und möchte bei der Suche anwesend sein. Ell nimmt die Nachricht vom Überleben Torms dagegen mit gemischten Gefühlen auf, da er ebenfalls Gefühle für Isma hegt und er möchte sie auch keiner Gefahr aussetzen. Leider sind starke Frauencharaktere im 19. Jahrhundert eine Seltenheit in der Literatur und so erscheint die ständige Sorge um Isma aus heutiger Sicht antiquiert. Die Gesellschaft der Marsianer ist ebenfalls männerdominiert und obwohl auch Frauen die Forschungsreisen begleiten, bleiben sie eine Minderheit und übernehmen keine schweren Arbeiten.

Ein weiterer Kritikpunkt ist die Darstellung weniger entwickelter Völker. So spielen die Eskimo, die schon vor Torms Expedition auf die Marsianer getroffen sind, keine bedeutende Rolle. Sie werden lediglich als Lakaien eingesetzt und obwohl sie Torm aus seiner misslichen Lage retten, erzeugt dies bei Isma eher Sorge, da ihr Mann doch nunmehr bei „Wilden“ weilt. Diese werden obendrein als unkultiviert und nach Tran riechend portraitiert. Aus heutiger Perspektive erscheinen solche Darstellungen rassistisch und schon allein die abwertende Bezeichnung „Eskimo“ für die Inuit würde heute kaum noch ein Autor benutzen, der nicht in eine rechte Ecke gerückt werden will.

Es wäre dennoch falsch, Laßwitz als Rassisten zu bezeichnen. Zu seiner Zeit waren derartige Begriffe noch gebräuchlich und die Einbeziehung von vermeintlich „Wilden“ ein gängiges Element von Abenteuerromanen. Im Kontext des 19. Jahrhunderts sind solche Darstellungen nicht überzubewerten. Ein Beispiel sollten sich heutige Autoren allerdings nicht mehr daran nehmen. Damals sahen sich die Europäer und Amerikaner aufgrund des rasanten technischen Fortschritts schnell als überlegene Zivilisation an, während aktuell die Schattenseiten dieses Fortschritts immer deutlicher werden und die Rückkehr zur Natur zunehmend als erstrebenswerte Utopie an Bedeutung gewinnt.

Ein Stück weit stellt Laßwitz die Zivilisiertheit der Europäer dann aber doch infrage. Erst lässt er die Franzosen das Feuer auf eines der Luftschiffe der Nume eröffnen, dann verlieren einige Crewmitglieder eines britischen Kriegsschiffes durch den Erstkontakt ihr Leben, indem sie durch diese Ablenkung in eine Gletscherspalte abstürzen. Daraus ergibt sich ein Missverständnis und die Briten nehmen zwei Marsianer gefangen, die eigentlich nur helfen wollten.

Als dann Ills Luftschiff hinzustößt und dieser die Herausgabe seiner Leute fordert, reagieren die Briten aggressiv. Es kommt zum Schusswechsel und obwohl die Briten ihre zwei Gefangenen letztendlich freilassen, müssen sich die Luftschiffe der Martier beschädigt zurückziehen. Nach diesem Erstkontakt ist die Atmosphäre vergiftet und die Nume sind obendrein vorerst handlungsunfähig. Ersatz kommt erst nach dem Winter und so müssen auch Ill, Ell und Isma gezwungenermaßen zum Mars reisen. Torm bleibt derweil verschollen und Grunthe muss irgendwie allein dafür sorgen, der Weltöffentlichkeit ein korrektes Bild der Nume zu vermitteln.

Kurd Laßwitz bedient hier das Mittel des Cliffhangers, der die Spannung auf das zweite Buch erhöht. In der modernen Science Fiction enden viele Serienstaffeln üblicherweise mit Cliffhangern und in manchen Serien sogar zunehmend alle Episoden. Auch Kinofilme erzählen längst nicht mehr abgeschlossene Handlungen, sondern halten die Fans mit epischen Filmreihen bei der Stange. Laßwitz kann also auch diesbezüglich als Vordenker gelten und mit Sicherheit würde eine Verfilmung von „Auf zwei Planeten“ in mindestens zwei Teilen ins Kino kommen, wenn sich denn jemals ein Studio für diesen Doppelroman begeistern ließe.

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